
Kapitel 1
»Er wird uns alle ins Verderben stürzen!« Krächzende Worte, die aus der Zeit zu fallen schienen, um ihm eine grausige Zukunft zu prophezeien.
Erschrocken fuhr Zephyr herum und musterte die alte Frau mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen.
Diese wedelte mit ihrem Gehstock an ihm vorbei in Richtung Bühne. »Das ist das Ende von allem.«
»Ach, Mutter.« Ein deutlich jüngerer Mann tätschelte ihr den Arm und warf Zephyr einen entschuldigenden Blick zu. »Sie ist immer so schwarzmalerisch.«
Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen, trotzdem jagte ihm ein eiskalter Schauder über den Rücken. Zephyr hatte schon von Prophezeiungen gehört, die genau so eingetroffen waren, wie vorhergesagt und das machte ihm Angst. Andererseits war das gewiss nur eine alte, wirre Frau, die unsinniges Zeug vor sich hinplapperte. So musste das sein.
Nachdenklich wandte er sich wieder der kleinen Bühne zu, auf der sein Vater gerade seine Rede beendete. »…und damit gebe ich das Wort an meinen erstgeborenen Sohn, den neuen Alphawolf von Luacarpa: Caspar!« Dieser Ankündigung folgte nur mäßiger Applaus, während Caspar die kleine Holztribüne betrat. Ruckartig ließ er seinen Blick über die Menge gleiten, seine Unsicherheit konnte Zephyr geradezu spüren.
Diese Veranstaltung war nichts als eine reine Zurschaustellung. Als ob niemand wüsste, wer Caspar war. Warum musste gleich ein ganzer Tag dafür geopfert werden? Kein Wunder, dass die anderen Lykaner wenig enthusiastisch auf seine Rede warteten. Sie wollten alle endlich ihre viel zu seltene Freizeit genießen.
»Du scheinst nicht gerade begeistert zu sein.« Amüsiert trat Lorelia neben ihn.
Mit vor der Brust verschränkten Armen ließ sich Zephyr gegen eine Hauswand sinken und betrachtete das Spektakel weiter aus sicherer Entfernung. Nicht, dass er auch noch dazukommen sollte, um seinem Bruder öffentlich zu gratulieren.
Lorelia seufzte. »Du hast ja recht. Seine Ernennung stand schon lange fest. Aber freust du dich nicht für ihn? Er ist doch dein Bruder.«
Kurz sah Zephyr mit einer hochgezogenen Augenbraue zu ihr hinüber, was Antwort genug sein sollte, bevor er sich wieder der Bühne zuwandte. Dieser Schritt war zwar abzusehen gewesen, trotzdem überraschte es ihn, dass es jetzt schon so weit sein sollte. Sein Vater war doch noch gar nicht so alt. »Das ändert nichts, ob mein Vater oder mein Bruder Alpha ist. Alles wird so bleiben, wie es ist, und das ist auch gut so. Nur diese ganze Aufregung, die veranstaltet wird, ist vollkommen überflüssig.«
Erneut applaudierte die Menge, da Caspar anscheinend mit seiner kurzen Rede fertig war. Zu viel Zeit hatte Zephyr an diesem angeblich besonderen Tag bereits vertrödelt, er hielt es nicht mehr aus. Darum stieß er sich von der Wand ab, um zu verschwinden.
»Wo gehst du hin? Willst du nicht mit deinem Bruder feiern?«
»Ich gehe jagen«, antwortete er, ohne sich umzudrehen. Das Bedürfnis, diesen Ort endlich zu verlassen, drängte ihn wie der Hunger in seinem Magen. Seine Pflicht war erfüllt. Er hatte dem morgendlichen Spektakel und nun auch der Ernennung beigewohnt. Bei der anschließenden Feier im kleinen Kreis würde Caspar ohnehin froh sein, wenn Zephyr nicht dabei war.
Hinter sich hörte er schnelle Schritte, die ihn einholten. »Heute haben alle frei, du musst nicht arbeiten«, sagte Lorelia mit mütterlicher Stimme.
Obwohl er wusste, dass sie es nur gut mit ihm meinte, platze er patzig heraus: »Für mich ist das Jagen keine Arbeit.«
Zwar erntete er einen tadelnden Blick von ihr, doch dann winkte sie ab. »Fein, wenn es dir gut tut, dann geh. Aber vergiss nicht, später noch beim Essen vorbeizuschauen. Das gehört sich so, dass die ganze Familie dort ist.«
Augenverdrehend erhöhte er das Tempo und schlängelte sich an einigen Anwesenden vorbei, die auf dem Dorfplatz in Grüppchen beisammenstanden und ausgelassen miteinander sprachen und feierten. Nach Feiern war ihm jedoch gar nicht zumute und Zephyr würde es genießen, ganz für sich allein im Wald zu sein.
Als er die Wohnsiedlung hinter sich ließ und von dem angrenzenden Wald in eine wohlige Umarmung ein-geschlossen wurde, entspannte er sich augenblicklich. Die wohltuende Ruhe des Waldes wurde nur durch das fröhliche Singen der Vögel und dem Rauschen der Blätter im Wind unterbrochen.
Direkt hinter der einfachen Stadtmauer steuerte Zephyr den Unterstand an. Für gewöhnlich war er nicht allein, aber heute gefiel es ihm, dass er der Einzige war, der seine Kleidung in das Regal legte. Als der Wind seine nackte Haut streichelte, spürte er schon den Wolf in sich, der es kaum erwarten konnte, endlich entfesselt zu werden.
Die Schritte, die plötzlich hinter ihm erklangen, dämpften das Gefühl der wohltuenden Einsamkeit. Er war sich sicher, dass Lorelia sich doch dafür entscheiden hatte, ihm beim Jagen Gesellschaft zu leisten. Sie waren ein eingespieltes Team, sie hatte ihm alles beigebracht und war in all den Jahren ein Mutterersatz für ihn gewesen, nachdem seine leibliche Mutter im Kindsbett gestorben war.
»Gehst du jagen?« Das war nicht Lorelias Stimme.
Sein Puls schnellte in die Höhe, während er sich blitz-schnell umdrehte und sich bereit zur Verwandlung machte. Bereit anzugreifen.
»Ganz ruhig!« Die Frau hob beschwichtigend beide Hände und wich einen Schritt zurück. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Zephyr hatte die Blondine zwar schon öfter gesehen, doch noch nie mit ihr gesprochen. In einer der Jagdgruppen war sie nicht, er kannte alle Jäger persönlich. »Die Jagdrunde fällt wegen der Feier aus.«
»Ich weiß. Kann ich trotzdem mitkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, begann die Frau die Bänder ihres Kleides zu lösen und sich auszuziehen.
Etwas überrascht, aber nicht abgeneigt, nickte Zephyr. Für ihn war die Jagd ein befriedigendes Ritual, das ihm dabei half, eine enge Bindung zu seinem Wolf zu knüpfen. Wenn andere sich anschließen wollte, war es in Ordnung. Das war ein Zeichen, dass sie die Werte und die Natur ebenso respektierten, wie er. Im Rudel war das Gefühl nochmal ein ganz anderes. Man musste sich wortlos aufeinander verlassen können und den anderen vertrauen.
Während sie ihre Kleidung ordentlich faltete und in das Regal legte, begann Zephyr ihr das Vorgehen zu erklären. »Ich würde vorschlagen, dass wir uns erst einmal ein wenig umschauen und im Norden die Fährte der Wildschweine aufspüren. Dann darfst du gerne zeigen, was du kannst.«
Mit einem selbstsicheren Lächeln drehte sie sich zu ihm und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich bin bereit.«
Zephyrs Blick blieb für einen Moment an ihrem Körper hängen: die sonnengebräunte Haut, die vollen Brüste. Sein Verstand ließ sich von dem Anblick ablenken, dass die Zeit um ihn herum zu verschwimmen begann.
Schon begann die Wölfin zu lachen. »Willst du nur gucken oder auch jagen?«
»Machst du das öfters?« Einige empfanden die Verwandlung als schmerzhaft, vor allem, wenn man sie zu lange herauszögerte. »Ich bin eigentlich immer im Wald und habe dich noch nie …« an diesen Anblick hätte er sich definitiv erinnert.
Die hübsche Frau zuckte mit den Schultern. »Hin und wieder, keine Sorge, ich komme schon klar.« Ihr Lächeln war frech und anziehend zugleich. Sie streckte sich, ihre Gelenke knackten als sie sich verbogen und die Gliedmaßen sich ausdehnten. Aus ihrer Haut sprossen Haare und verwandelten sich in Fell, das bald ihren ganzen Körper bedeckte. Noch bevor Zephyr etwas antworten konnte, lief die Wölfin mit sanft federnden Schritten an ihm vorbei.
Schnell hatte er die Wölfin eingeholt, die ihm einen flüchtigen Blick zuwarf, dann senkte sie ihre Nase gen Boden, um die Fährten der Wildschweine zu erhaschen. Zephyr tat es ihr gleich. Er liebte die Gerüche der Natur, die durch die empfindliche Wolfsnase so intensiv waren. Die Welt um ihn herum veränderte sich, einige Farben verblassten in den Augen des Tieres, Gerüche wurden zu Nebel, zu feinen, sichtbaren Fäden oder Wölkchen.
Die schmalen Waldwege wurden zu kaum sichtbaren Trampelpfaden. Der Waldboden mitsamt seinen Pflanzen, wie Pilzen und Sträuchern verströmte ungehindert seinen Duft. Es roch nach Erde, teilweise gab es schlammige Stellen, welche die Wölfe mieden, um keine Geräusche zu machen. Die üppige Vegetation aus Farnen und Kletten zwischen zahlreichen Beeren- und Dornensträuchern ließ den Wald dicht erscheinen, doch kannte man die richtigen Wege, fand man sich auch in diesem Labyrinth zurecht, ohne sich in den Ranken zu verfangen. Zwischen bemoosten Stämmen schossen bereits vielfältige Pilze aus dem Boden, um die Luft mit ihrem würzig herben Duft zu bereichern. Das alles war es, was für Zephyr zählte. Das war der Duft nach Freiheit und Unbeschwertheit. Hier fühlte er sich leicht, dass sein Herz vor Freude sprang. Die wilde Natur hielt ihm jeden Tag aufs Neue vor Augen, was Perfektion bedeutete.
In mäßigem Tempo liefen die beiden Wölfe über den erdigen Boden, über Wurzeln und Blätter. Irgendwann wurde die Wölfin langsamer. Zephyr nahm es ebenfalls wahr: einen feinen Schleier, der sich durch das Unterholz schlängelte. Der Geruch nach Wildschwein. Ein erwartungsvoller Schauder durchfuhr ihn. Das war der besondere Reiz, die Beute aufzuspüren.
Sie folgten der Fährte und entdeckten die Tiere schon bald an einem kleinen Bachlauf. Das sanfte Plätschern des Wassers kam ihnen zugute. Zephyr ließ sich etwas zurückfallen, um die Wölfin bei der Jagd zu beobachten. Und, um einzugreifen, falls ihr die Beute entwischte.
Doch die Wölfin war vorsichtig. Sie pirschte sich unauffällig an die Gruppe der Schweine heran, machte sich bereit und preschte dann los. Laut quiekend stoben die Tiere auseinander, doch die Wölfin hatte es nicht auf die Jungtiere abgesehen. Sie stürzte sich auf die Bache, die versuchte durch den Flusslauf zu fliehen. Dabei warf sie diese bereits im Wasser zu Boden. Ein kurzer Aufschrei, dann verstummte das Tier und seine Bewegungen erstarben. Ein Schleier aus Blut färbte das sanft strömende Wasser rot.
Langsam tappte Zephyr zu der Wölfin, deren Augen triumphierend aufblitzten. Zufrieden senkte er den Kopf, um ihr seine Achtung auszudrücken.
Noch am Bach verwandelte sie sich zurück in ihre menschliche Gestalt. Blutreste klebten ihr im Gesicht, das sie sich mit dem erfrischenden Wasser säuberte. Sie packte das Wildschwein an den Hinterläufen und versuchte, es anzuheben.
Nach einem weiteren Versuch, den Zephyr amüsiert beobachtete, stemmte sie ihre Hände in die nackten, wohlgeformten Hüften und sah ihn auffordernd an. »Du könntest aufhören mich anzustarren und mit anpacken.«
Gemächlich setzte er sich in Bewegung und verwandelte sich ebenfalls zurück. Die Pfoten wurden wieder zu Händen und Füßen, das Fell zu Haut. Die Schnauze verkürzte sich und wurde wieder zu Mund und Nase. »Hättest du dir das kleine ausgesucht, dann hättest du es allein tragen können.« Schmunzelnd packte er die Vorderläufe, während sie die hinteren erneut anhob.
»Ich hätte auch einen Hasen jagen können, aber so haben mehr Lykaner etwas von diesem leckeren Abendessen.«
Während sie das Wildschwein gemeinsam zurück zum Dorf trugen, schwiegen sie die meisten Zeit. Zephyr war kein Mann großer Worte und auch seine Begleiterin zog es vor, kein Gespräch zu beginnen. Stattdessen warf sie ihm hin und wieder verstohlene Blicke zu, die ihm nicht entgingen. Am liebsten wäre er gerne hier im Wald über sie hergefallen, doch dann hätte er sie womöglich verschreckt. Also genoss er schweigsam ihren Anblick.
Am Unterstand legten sie ihre Beute auf dem Boden ab. Zephyr nahm seine Kleidung heraus und zog sich seine Hose an. Als er sich umdrehte, stand die Wölfin dicht vor ihm. Deutlich war ihr anzusehen, dass ihr kalt wurde, doch sie griff nur langsam an ihm vorbei nach ihrem Kleid. Dabei streifte ihre nackte Haut seinen Oberkörper. Ein Kribbeln durchfuhr ihn und ließ ihn erstarren. Sie war wohl doch nicht so schüchtern, wie sie vorgab.
»Zephyr?«
»Hm?« Sie kannte seinen Namen und jetzt erst fiel ihm auf, dass er nicht einmal wusste, wie sie hieß. Aber das war egal für das, was er mit ihr vorhatte.
»Ich wollte …« Sie zögerte und senkte verlegen den Blick, während sie sich den rauen Stoff ihres Kleides über den Kopf zog. »Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht Lust hast, zusammen mit mir etwas essen zu gehen.«
Diese Frage hatte er nicht ganz erwartet, nachdem sie sich so provokant an ihm vorbei bewegt hatte. Er brauchte nicht lange für seine Antwort, bei ihrem Anblick und dem Gedanken an ein saftiges Stück Fleisch, lief ihm sofort das Wasser im Mund zusammen. »Sehr gerne!« Vielleicht ergab sich später noch etwas.
Zephyr nahm einen der Handkarren, die neben dem Unterstand aufgereiht lagen. Nachdem sie gemeinsam das Wildschwein darauf abgelegt hatten, packte er den Griff und zog ihre Beute hinter sich her.
Wieder schwiegen sie, was aber nicht unangenehm war. Ganz im Gegenteil, so konnte er sie beobachten. Ihren schwungvollen Gang, die wippenden Brüste unter dem Stoff ihres Kleides. Die Vorstellung, wie sie darunter aussah, ließ ein Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen.
Im Dorf war es nicht so kalt wie im Wald, da sich die Wärme der Sonne auf den breiten Wegen zwischen den Häusern sammelte. Zephyr stellte den Karren vor dem Hinter-eingang des Fleischers ab und klopfte an die Tür.
Als der Fleischermeister herauskam, breitete Zephyr seine Arme aus. »Meine wundervolle Begleitung konnte es nicht lassen und hat zur Feier des Tages einen grandiosen Fang gemacht.«
»Ohne seine Hilfe, hätte ich es nicht allein ins Dorf tragen können«, sagte sie mit einem Augenaufschlag.
Dem Fleischer waren die Worte einerlei, er nahm den Karren und zog ihn in das Gebäude. »Das werde ich aber nicht mehr heute machen. Heute wird nicht gearbeitet.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll, sein Blick war finster. Ohne weitere Worte knallte er die Tür zu.
»Was für ein Spielverderber.« Mit einem süffisanten Grinsen kam sie näher an Zephyr heran und hakte sich bei ihm unter. »Komm, lass uns in die Schenke gehen.«
Erst als er den Raum betrat, wurde ihm bewusst, wie dumm diese Entscheidung war. Er hatte ganz vergessen, dass sein Bruder und sein Vater hier mit einigen anderen Lykanern saßen und feierten.
»Zephyr! Da bist du ja endlich. Wo hast du gesteckt?« Sein Vater sprang vom Stuhl auf, unwillkürlich wich Zephyr einen Schritt zurück.
Die Wölfin packte seinen Arm. »Oh, das tut mir leid, ich wusste nicht, dass deine Familie hier ist«, raunte sie ihm zu und lächelte dann Dargor an, der auf sie zukam.
Nicht, dass sie noch auf den Gedanken kam, ihn hier allein zu lassen. Instinktiv griff er nach ihrer Hand, die sie auf seinen Arm gelegt hatte.
»Freydis, schön dich zu sehen. Wie geht es deinem Bruder?«
Ah, das war also ihr Name. Natürlich kannte sein Vater jeden Lykaner persönlich, wie es sich für einen Alpha gehörte. Diese Geselligkeit hatte er von ihm definitiv nicht geerbt. Zephyr war mit Vorliebe Einzelgänger.
»Danke, ihm geht es gut. Es war meine Schuld, ich habe Zephyr aufgehalten.« Ihre präsente, warme Ausstrahlung ergriff nicht nur Zephyr.
Mit glücklichem Lächeln sah Dargor von ihr zu seinem jüngsten Sohn. In seinen Augen schimmerte Hoffnung, dass wenigstens einer seiner Söhne endlich eine Frau fand, mit der er eine Familie gründen konnte. Abwinkend drehte sich Dargor zur Seite. »Halb so wild. Kommt, setzt euch und genießt ein kaltes Getränk mit uns.«
»Ach, ich will nicht stören.« Freydis sah Zephyr mit großen Augen erwartungsvoll an. Sie überließ ihm die Entscheidung.
Bei diesem Blick konnte man nur nachgeben. »Wenn wir schon einmal hier sind, dann können wir uns zu den anderen setzen.« Hunger hatte er nämlich schon. Auch wenn Zephyr im Moment gerne überall gewesen wäre, nur nicht hier. Als er an den Tisch trat, musste er sich zu einem Lächeln zwingen.
Sein Bruder warf ihm einen tadelnden Blick zu, er wusste genau, dass dieser nicht begeistert von seiner Verspätung war. Dabei hatte er nicht einmal vorgehabt, herzukommen.
Freydis ging zu dem neuen Alpha und gratulierte ihm. Damit zauberte sie ihm ein Lächeln auf das Gesicht. Diese Frau konnte einfach jeden um den Finger wickeln, dachte Zephyr fasziniert.
Das Essen verlief genau so, wie er es erwartet hatte. Furchtbar langweilig. Die Lykaner redeten über die Stadt und über Caspars Aufgaben. Gedankenverloren stürzte Zephyr sich auf das Essen, wogegen Freydis sich ausgesprochen rege an den Gesprächen beteiligte. Die Themen der Stadt waren so trocken, dass Zephyr sich jetzt schon nach dem Met verzehrte, das nach dem Essen ausgeschenkt wurde. Dankbar griff Zephyr nach seinem Krug. Wie sollte er diesen Abend nur überstehen? Warum hatte er sich überhaupt darauf eingelassen? Er kam sich so fehl am Platz vor, da er nicht mitreden konnte. Er wollte es auch gar nicht, denn sein Interesse war bei dieser viel zu menschlichen Versammlung nicht von Bedeutung. Wenigstens seine Begleitung schien sich gut zu amüsieren.
Bevor die Bedienung allen Met eingefüllt hatte, war Zephyrs Krug bereits geleert, sodass er sich gleich ein weiteres Mal einschenken ließ. Sein Blick wanderte durch den Raum und immer häufiger zur Tür. Die Gespräche um ihn herum wurden bald lockerer, aber er interessierte sich nicht für diese. Seine Welt war der Wald und das Jagen, die Männer und Frauen, die hier saßen, hatten ganz andere Prioritäten. Ihnen schien ihre wölfische Seite immer unwichtiger zu werden.
»Du bist ziemlich still«, stellte Freydis mit einem mitleidigen Blick fest. Sie sprach gedämpft, dass die anderen sie nicht hören konnten.
»Ich wäre auch im Moment lieber woanders«, brummte er und sah kurz zu seinem Bruder, der sich angeregt mit dem Hauptmann der Stadtwache unterhielt.
Mit einem koketten Lächeln erhob Freydis sich. »Da kann ich vielleicht helfen.« Sie ging hinüber zu seinem Vater, beugte sich tief zu ihm hinab, sodass jeder, der am Tisch saß, einen guten Ausblick in ihr ansehnliches Mieder hatte und sprach leise mit ihm. Dargor lächelte, sie lachten beide, dann richtete sie sich auf und winkte Zephyr zu sich.
Schnell leerte Zephyr seinen Krug und sprang so hektisch von seinem Stuhl hoch, dass dieser beinahe zu Boden fiel. Plötzlich wieder hellwach, hastete er um den Tisch herum zu seinem Vater, der sich gerade von Freydis verabschiedete.
»Vielen Dank, es war mir eine Freude, dabei sein zu dürfen«, schwärmte Freydis und ging dann hinüber zu Caspar.
Dargor legte derweil seine Hand auf Zephyrs Arm und raunte ihm zu: »Das hätte ich wahrlich nicht von dir erwartet, mein Sohn. Gib dir ein wenig Mühe, Freydis ist wirklich ein gutes Weib für dich.«
Natürlich interpretierte er die Sache vollkommen falsch. Sein Vater hoffte schon lange, dass Caspar und er eine Familie gründeten, alt genug waren sie dafür. Aber bisher war ihm weder die richtige Frau begegnet, noch hatte er das Bedürfnis, sein Leben zu verändern. Er war glücklich, wie es war. Unkompliziert und wölfisch.
Er beobachtete Freydis, wie sie mit seinem Bruder sprach, und musste unwillkürlich lächeln. Sie war wirklich hübsch. Seine Gedanken schweiften zurück zur Jagd und ihren wohlgeformten Körper.
»Komm, Zep!« Schwungvoll hakte sie sich bei ihm unter und zog ihn zum Ausgang.
Caspar sah Zephyr durchdringend an, aber seine Gedanken interessierten ihn nicht. Wahrscheinlich war er sogar froh darüber, dass er so früh schon wieder verschwand. Das war ihm ganz recht.
Erleichtert ließ er die erdrückende Wärme und den intensiven Geruch des Gasthauses hinter sich und trat hinter Freydis hinaus in die kühle Abendluft.
»Was hast du ihnen erzählt?« Egal, was er gesagt hätte, niemals wäre er so leicht davongekommen. Außerdem war Zephyr sich sicher, dass sein Bruder ihm später noch Vorwürfe machen würde, dass er zu spät gekommen war.
»Das bleibt mein Geheimnis.« Grinsend lehnte Freydis ihren Kopf gegen seine Schulter.
»Wo möchtest du hingehen?« Die sinkende Sonne blendete Zephyr, weshalb er seine Begleitung in den Häuserschatten führte. »Der Abend ist noch jung.« Er selbst wusste ganz genau, wohin er gerne mit ihr gehen würde. Aber sie musste zumindest das Gefühl der Wahl haben.
»Hmm«, begann sie laut zu überlegen. »Am Wasserfall ist bestimmt zu viel los. Heute haben alle frei und genießen den Tag an den schönsten Orten Luacarpas. Was ist mit der Höhle?«
Fragend sah Zephyr sie an, bis auch ihm die große Höhle im Westen des Waldes einfiel. Unsicher zuckte er mit den Schultern, dort würde es sicher bald stockfinster sein. »Da können wir in Kürze unsere Hände vor den Augen nicht mehr sehen.«
Sie nickte nachdenklich. Nirgendwo würden sie ungestört sein können, doch genau das wollte Zephyr gerade mehr als alles andere. Seine Gedanken rasten, er ging alle Orte durch, doch ihm fiel nur sein eigenes Zimmer ein. »Wohnst du bei deinem Bruder?«, fragte er vorsichtig nach, um mehr über sie herauszufinden.
»Ja, wir wohnen über dem Gewürzladen. Es ist nicht groß, aber es reicht für uns beide.«
»Wir könnten zu mir nach Hause gehen. Mein Bruder und mein Vater sind bestimmt noch lange in der Schenke.« Er ließ es beiläufig klingen, so ganz konnte er Freydis Absichten noch nicht einschätzen.
Die Wölfin überraschte ihn mit einer direkten Antwort: »Ihr wohnt oben im Versammlungshaus?«
Nickend deutete Zephyr auf den Stadtplatz, in dessen Mitte das Langhaus stand. Im unteren Teil wurden Versammlungen abgehalten. Der Alpha hatte einen kleinen Raum, in dem er für Anliegen jeglicher Art anzutreffen war. »Die Familie des Alphas lebt über den Versammlungs-räumen, damit der werte Alphawolf auch jederzeit erreichbar ist«, sagte Zephyr hochgestochen, worauf Freydis lachte.
»Dann lass uns dorthin gehen.«
Galant stieß Zephyr die Tür auf und führte Freydis an den Versammlungsräumen vorbei zur Treppe. Hand in Hand gingen sie hintereinander nach oben und gelangten in den großzügigen Wohnbereich in der ersten Etage, was Freydis einen erstaunten Pfiff entlockte. »Wow, ihr habt ja ziemlich viel Platz. Hast du ein eigenes Zimmer?« Ihre Augen glänzten voller Vorfreude.
»Ja, es ist nicht groß, aber es reicht.«
Mit einem verführerischen Blick nahm Freydis seine Hand und zog ihn an sich. »Komm, zeig es mir!«
Kapitel 2
Das sonnige Wetter war verlockend. Zu gerne würde sich Marika einfach auf ein Mäuerchen setzen und die wohlige Wärme genießen, doch ihr Magen gab ihr knurrend zu verstehen, dass sie arbeiten musste. Mit sehnsüchtigem Blick sah sie hinüber zu ihrem Lieblingsplatz am Rande der Stadt und versprach sich in Gedanken, später herzu-kommen, wenn sie erfolgreich gewesen war.
Schon auf dem Weg zum Stadtplatz nahm sie die Stimmen wahr, der Trubel wurde immer lauter. Je weiter Marika durch die Gassen schritt, desto mehr Menschen begegneten ihr. Das sonnige Wetter lockte sie alle hervor, auch jene, die nicht zwingend hinaus mussten.
Als sie den Marktplatz erreichte, stellte Marika zufrieden fest, dass dieser bereits so voll war, dass sich die Menschen an einigen Stellen aneinander vorbei drängen mussten. Obwohl sie die Ruhe liebte, waren solche Ansammlungen von Körpern genau das richtige für eine erfolgreiche Jagd.
Es reichte ein flüchtiger Blick, um die besten Opfer herauszusuchen. Zwischen den einfachen, braunen Roben stach eine Frau im blauen Kleid besonders hervor. Begleitet von zwei Mägden, schritt sie elegant durch die Menge und betrachtete die Auslagen der Stände mit einem leicht hochnäsigen Blick. Aber sie wäre nicht hier, wenn sie nicht auch etwas kaufen wollte. Den samtenen Beutel hielt sie bereits in der Hand, während sie ihrer Magd genaue Anweisungen gab. »Dieser Stoff würde hervorragend passen.«
»Ja Mylady, er ist wunderschön.«
Marika wartete wenige Schritte weiter, bis die Dame bezahlt hatte und den Beutel unter ihrem langen Umhang verschwinden ließ. Sobald sie den Weg abschätzen konnte, den sie nun einschlug, lief sie los. Klein und zierlich zu sein, war nun von großem Vorteil. Geschwind schlängelte Marika sich durch die Menge, an der Lady vorbei und wählte recht zielsicher einen Mann aus, dem sie von hinten einen Klaps auf den Hinterkopf gab. Noch bevor dieser regieren konnte, war sie wieder untergetaucht und hielt auf die reiche Frau zu.
Der geschlagene Mann war die richtige Wahl gewesen, denn er pöbelte sogleich einen anderen an. Wie ein Lauffeuer breitete sich dieser Streit aus und innerhalb kürzester Zeit war eine ganze Gruppe involviert.
Schmunzelnd fokussierte sie den verdeckten Beutel unter dem Umhang. Ihr Opfer wurde langsamer, genau wie sie es erwartet hatte. Dieser Trick funktionierte immer. Für eine weitere Ablenkung schubste sie noch wahllos einige Personen im Gedrängel, bevor sie die Dame anrempelte. »Entschuldigt Mylady«, sagte sie höflich und ließ den Beutel unter ihrer eigenen Robe verschwinden.
So schnell sie konnte, ließ sie die Menge hinter sich und steuerte den Rand des Marktplatzes an. Ihr Puls raste vor Aufregung, als sie in eine schmale Gasse einbog und einige Schritte später stehenblieb, um ihre Beute zu begutachten. Neugierig spähte sie in den Samtsack, der schwer in ihrer Hand lag. Er war gefüllt mit Talern und würde gewiss für lange Zeit ausreichen, um sie zu versorgen.
»Auf ein Wort, Mylady.«
Die Stimme ließ Marika hochschrecken. Krampfhaft zog sie den Beutel unter ihre Robe und sah zu dem schlanken Mann, der am Anfang der Gasse stehengeblieben war.
Sein schwarzes Haar glänzte in der Sonne und er musterte sie aus schmalen Augen. »Ja, ich meine Euch.« Langsam kam er näher.
»Was wollt Ihr von mir?« Misstrauisch wich sie vor ihm zurück.
»Ich wurde beauftragt, Euch einzuladen. Mein Name ist Kahn. Mein Herr schickt mich. Er hat Euch beobachtet und bittet um Eure Gesellschaft.« Der Mann blieb stehen.
Das musste doch eine Falle sein. »Wer ist Euer Herr und warum will er ausgerechnet meine Gesellschaft?«
»Die Gründe hat er mir nicht genannt, aber die werdet Ihr sicherlich erfahren. Kommt heute Abend ins Gasthaus am Hafen. Bei Sonnenuntergang erwartet er Euch.« Da Marika nicht antwortete, fügte er hinzu: »Ihr solltet seine Bitte nicht abschlagen.«
Nachdenklich sah sie zu dem Kerl, der immer noch in der Sonne am Rande der Gasse verharrte, während die Schatten der Gasse kalt und drohend hinter ihr anzu-wachsen schienen. Marika fröstelte. »Ich werde kommen.« Ob sie es tatsächlich tun würde, hatte sie noch nicht entschieden, aber sie musste ihn erst einmal loswerden.
Mit einer knappen Verbeugung verabschiedete sich Kahn und verschwand.
Immer noch atmete sie zu schnell und beruhigte sich nur langsam. Das war unheimlich gewesen. Noch nie in ihrem Leben war Marika von irgendwem eingeladen worden, geschweige denn von einem Herrn, der seinen Diener losschickte. Das konnte doch nur eine Verwechslung sein.
Und genau das war auch der Grund, warum sie nicht zur Schenke am Hafen ging, sondern den Sonnenuntergang auf ihrem Lieblingsplatz genoss. Die Taler, die sie heute erbeutet hatte, würden einige Wochen reichen. Solch einen Glückstreffer hatte sie lange nicht mehr gelandet. Zufrieden biss sie in das Brot, das sie auf dem Rückweg über den Marktplatz gekauft hatte, denn sie stahl nur von denen, die genug hatten.
Als die Sonne vollends untergegangen war, machte sich Marika auf den Weg zu ihrer Unterkunft. Obwohl sie jetzt genug Taler hatte, um sich sogar ein Zimmer leisten zu können, sparte sie sich das lieber für den Winter auf.
Im Dunklen fand sie sich auf den Straßen der Stadt gut zurecht. Ihr reichte das seichte Licht des Mondes, um sich zu orientieren, und sie liebte die Schatten, mit denen sie eins werden konnte.
Doch irgendwas war dieses Mal anders. Obwohl der Mond hell am Nachthimmel strahlte, waren die Gassen schwärzer als üblich. Beinahe als wären sie lebendig. Marika wurde langsamer und blieb vor der Abzweigung, die zu ihrem Schlafplatz führte, stehen. Die kleinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, sie war definitiv nicht allein. Sie spitze die Ohren, lauschte in die Dunkelheit hinein, doch da war nichts, außer bedrückende Stille. Voller Konzen-tration starrte sie in die Gasse, in der Erwartung, diese würde zurückblicken.
Mit einem Poltern flog auf einmal eine Tür auf. Erschrocken zuckte Marika zusammen und wich nun selbst in eine Ecke zurück, denn das zuckende Licht der Kerzen aus dem Inneren zerbrach die kalte Stille mit feuriger Wärme.
Die Männer sprachen laut miteinander, doch ihre Worte interessierten Marika nicht. Sie wartete in einer Nische, bis sie an ihr vorübergegangen waren und die Tür hinter ihnen zugefallen war. Dann huschte sie lautlos an dem Eingang vorbei und weiter in den hinteren Teil der Stadt. Den Bereich, in dem es ruhiger war, in dem nur wenige Lichter hinter den Fenstern brannten und der schließlich in völliger Nacht und Dunkelheit dalag. Genau hier, bei einem verlassenen, verfallenen Gebäude, hatte sie sich wohnlich niedergelassen.
Als sie durch das Fenster in den ersten Stock kletterte und ihren neuen Samtbeutel neben ihr Schlaflager fallen ließ, überkam Marika ein Schauder. Sofort erstarrte sie. Etwas stimmte nicht. Es war nur ein kurzer, feiner Hauch gewesen. Ein Duft, der nicht hierher gehörte, der aber da war.
Langsam ging sie in die Hocke und zog das Messer aus der Scheide. Fest hielt sie es umklammert, während sie sich aufrichtete und einmal um die eigene Achse drehte. Auch hier war es dunkel, doch sie erkannte Schatten der alten Möbel, die sie nutze. Gleichzeitig verließ sie sich auf ihr Gehör. War das ein Atmen? Ihr Herz dröhnte laut in ihren Ohren, sie war sich nicht mehr sicher, ob sie sich das Geräusch nur eingebildet hatte. Eigentlich dürfte niemand hier sein.
Kurz überlegte sie, ob sie sich verwandeln sollte, doch dann entschied sie sich für die einzige Alternative. »Wer ist da?«
Es dauerte nicht lange, da trat tatsächlich eine Gestalt in ihr Sichtfeld. Die Person hatte sich hinter einem Schrank verborgen. »Mein Herr ist enttäuscht, dass Ihr seiner Einladung nicht gefolgt seid.«
Der schon wieder. Marika ließ das Messer sinken. »Ich glaube kaum, dass ich die Richtige bin. Euer Herr sucht nach jemand anderem.«
Entschieden schüttelte Kahn den Kopf. »Nein, meine Anweisung ist eindeutig. Ich soll Euch zu ihm bringen.«
»Und wenn ich mich weigere?« Instinktiv wich sie einen Schritt zurück, das offene Fenster war nur einen Sprung entfernt.
Ein Seufzen. »Mein Herr bekommt immer, wonach er verlangt. Glaubt mir, Ihr wollt ihn nicht verärgern. Aber seid Euch ebenso gewiss, es wird sich für Euch lohnen.«
»Ich bin keine Hure, wenn Ihr das glaubt.« Ihre Stimme war ein Fauchen. »Mich kann man nicht kaufen.«
»Jeder ist käuflich.« Den Satz flüsterte er so leise, dass ein normaler Mensch ihn nicht verstanden hätte. »Was muss ich tun, um Euch davon zu überzeugen, mitzukommen?«
»Ich werde niemals …«
Kahn hob die Hand, während er sie mit schneidenenden Worten unterbrach: »Sagt das nicht!«
Marika verstummte und beobachtete, wie der Mann auf den Tisch zuging und mit einem Zündholz den Kerzenstumpf entzündete. Danach nahm er weitere Kerzen, die auf dem Tisch lagen und zündete sie ebenfalls an. In aller Ruhe verteilte er die Kerzen im Raum, bis dieser in einem warmen Flackerschein erleuchtet war.
Unwohl wagte Marika es nicht, ihn aufzuhalten. Obwohl sie nur wenige Kerzen besaß und sie sich für die dunkle Jahreszeit aufsparen wollte, blieb sie stumm. Dieser Mann strahlte wie der Feuerschein etwas aus, dass sie davon abhielt, überstürzt zu handeln und stattdessen abzuwarten.
»Ich werde Euch zu nichts zwingen«, begann Kahn. In seinen grünen Augen spiegelten sich die tanzenden Flammen. »Mein Herr ist nicht wie andere Männer.«
»Das behauptet jeder von sich.« Marika verschränkte die Arme vor der Brust.
»Nein.« Mit einem Kopfschütteln unterstrich er seine Antwort. »Er ist wirklich anders. Niemand will ihn zum Feind haben, denn er ist mächtig. Wenn Ihr euch gegen ihn stellt, wird er Euch das Leben schwer machen. Mit Glück wird er Euch einfach töten lassen.«
»Ich dachte, Ihr wolltet mich überzeugen, zu ihm zu gehen. Bei solchen Aussagen wäre ich ein Narr, diesem Mann jemals unter die Augen zu treten.«
»Wenn er einem wohlgesonnen ist, dann kann man es nicht besser treffen. Er hat Euch ausgewählt, er wird Euch wie eine Königin behandeln. Euch wird es an nichts fehlen.«
»Und wenn ich ihm doch nicht gefalle? Oder wenn er mir nicht gefällt?« Sie kannte ihn nicht und bisher war ihr kein Mann begegnet, der ihr gefallen hatte.
Ein intensiver Blick fixierte sie. »Findet es heraus. Er ist ein guter Herr, wenn man loyal ist. Sollte er merken, dass Ihr euch nicht wohl fühlt, wird es eine Lösung geben. Aber kommt mit und lernt ihn kennen. Zu Eurer eigenen Sicherheit.« Er deutete auf eine der Kerzen. »Es wäre doch zu schade, wenn dieses Haus niederbrennen würde.«
Die Drohung ließ Marika die Fäuste ballen. Wie konnte sie nur in solch eine Situation geraten? Sie hatte doch gar nichts gemacht, war immer vorsichtig gewesen, hatte sich immer in den Schatten der Stadt bewegt, um nicht aufzufallen. Wie konnte es sein, dass ein angeblich so mächtiger Kerl sie entdeckt hatte? Und warum wollte er sie? Sie hatte kein echtes Zuhause und war eine Diebin. Ihre Kleidung war alt und löchrig, ihr Haar fettig und zerzaust. Aber sie durfte nicht riskieren, dass ihr einziger Rückzugsort den Flammen zum Opfer fiel. »Wo muss ich hin?«
Zufrieden nickte Kahn. »Ihr habt die richtige Wahl getroffen.«
»Ich habe keine echt Wahl«, entgegnete sie leise. Sie begann, die Lichter zu löschen und warf dabei einen Blick auf ihr Schlaflager.
»Nehmt Eure Beute ruhig mit. Ihr werdet ein eigenes Zimmer bekommen. Wo Ihr hingeht, gibt es genug Taler.«
»Ich würde sie lieber an einen sicheren Ort bringen.« Marika deutete auf den Ausgang. »Wenn ihr draußen auf mich warten würdet…«
Mit einer knappen Verbeugung wandte Kahn sich ab und nahm den offiziellen Weg durch die Tür.
Erst als sie wieder allein war, atmete sie tief ein. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Samtsäckchen und hob es auf. Wo war sie nur hineingeraten? Zügig lief sie in den Nebenraum und hockte sich neben die verrußte Feuerstelle. In der Wand war eine kleine Nische, in der sie ihre Beute versteckte. Danach klopfte sie sich den Staub von der Kleidung, streckte den Rücken durch und ging hoch erhobenen Hauptes nach draußen.
Kahn führte sie quer durch die Stadt. Zielstrebig bog er in dunkle Gassen ein, nahm Abkürzungen und bewegte sich elegant und fast lautlos vorwärts. Beeindruckt von seiner Schnelligkeit, bei der sie jedoch gut mithalten konnte, nahm sie die Veränderungen um sich erst wahr, als die Gebäude deutlich imposanter wurden. Für gewöhnlich hielt sie sich nicht in dieser wohlhabenden Gegend auf, denn so, wie sie aussah, würde man sie vertreiben. Hier patrouillierten Tag und Nacht Stadtwachen, um die Straßen von dem gemeinen Volk rein zu halten. Allein der Gedanke daran bereitete ihr ein flaues Gefühl im Magen. Sie gehörte nicht her.
»Ist alles in Ordnung?« Kahn wurde langsamer. »Habt keine Angst. Es gab wirklich keine Verwechslung. Ihr werdet ihn gewiss mögen. Auch wenn er einschüchternd sein kann, hat er ein großes Herz.« Vor einem großen Tor blieb er stehen.
Seitlich erschien ein Wachmann, der Kahn nur kurz ansah und dann das schmiedeeiserne Tor aufschob. Nachdem Kahn und Marika hindurchgetreten waren, schloss er es wieder. Keiner sagte ein Wort.
Marika lief langsam weiter, sah sich jedoch noch einmal zu der Wache um, die wieder ihren Posten einnahm. Dann blickte sie nach vorne. In der mondhellen Nacht ragte ein imposantes Gebäude in die Höhe. Mindestens zwei Stockwerke, die Fassade war dunkel. Nur hinter wenigen Fenstern brannte schwaches Licht, die wie die glühenden Augen eines lauernden Ungetüms auf sie starrten.
Zügig lief Kahn zum Haupteingang, ein schwarzes Tor, das zwei Männer hoch war. Knarzend öffneten sich die breiten Flügel der Tür und sie betraten die Empfangshalle.
Neben einer breiten Treppe, die nach oben führte, war der Raum leer. Auf dem Boden lagen dunkle Steinplatten, die unter ihren Schritten bei jedem Auftreten einen hallenden Klang verbreiteten.
Zu ihrer Linken eröffnete sich ein Bogen, dahinter ein Raum, aus dem sich ein schwacher Lichtschein bemühte, die Dunkelheit zu bekämpfen.
Kahn entzündete einige Kerzen im Eingangsbereich und stellte sich dann neben Marika. »Er wird jeden Augenblick hier sein.«
Nur einen Wimpernschlag später sah Marika einen riesigen Schatten in dem Durchgang. Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie hatte ein gutes Gehör, doch diese Person hatte keinerlei Geräusche beim Näherkommen gemacht.
Mit langsamen Schritten nahm die Person eine Gestalt an. Ein großer Mann, breit gebaut, mit einem dichten Bart. Sein Gewand war ebenso dunkel, wie das Gebäude und allein die selbstbewusste Körperhaltung dieses Hünen schüchterte sie ein. Dieser Mann hatte es also auf sie abgesehen? Oder würde er nun selbst merken, dass ihm ein Fehler unterlaufen war? Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mannes, dann verbeugte er sich leicht. »Mylady, schön, dass Ihr zu mir gefunden habt. Es ist mir eine Freude, Euch in meinem Haus begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Alistair.«
Überfordert von dieser höflichen Begrüßung sah Marika hilfesuchend zu Kahn, der ihr nur aufmunternd zunickte. Instinktiv machte sie einen Knicks. »Mylord, ich bin Marika. Vielen Dank für die Einladung.« Wenn er wirklich so mächtig war, wie Kahn ihr gesagt hatte, sollte sie ihr Möglichstes tun, um ihn bloß nicht zu verärgern.
»Kahn wird Euch in Euer Gemach führen, damit Ihr Euch frisch machen könnt. Seid ihr erschöpft?«
Was war das für eine Frage? Marika war alles andere als müde, ihr ganzer Körper kribbelte vor Anspannung und sie würde diese Nacht bestimmt nicht schlafen können. Dennoch erwiderte sie: »Ein wenig.«
»Ruht Euch aus. Morgen zum Anbruch der Nacht, möchte ich Euch bei einem Abendessen kennenlernen.« Alistair sah Kahn an. »Kümmere dich um sie. Wenn irgendetwas ist, komm jederzeit zu mir. Marika soll sich hier wie Zuhause fühlen. Jeder Wunsch wird erfüllt.« Langsam kam er näher an sie heran und blieb direkt vor ihr stehen. »Ihr seid aus der Nähe noch viel schöner.«
»Ihr habt mich beobachtet?«, platze es aus ihr heraus. Genau diese Frage lag ihr schon den ganzen Abend auf der Zunge.
»Ich habe meine Augen und Ohren überall in dieser Stadt.« Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Deine Anmut und Geschicklichkeit sind faszinierend. Aber lasst uns morgen weiter plaudern. Nun habe ich noch zu tun. Ruht euch aus, die nächste Nacht wird lang.« Er ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.
Marika musste sich zusammenreißen, um ihren Arm nicht sofort zurückzuziehen. Unwillkürlich hielt sie die Luft an.
Erst als Alistair den Raum wieder verlassen hatte, konnte sie den angehaltenen Atem zitternd ausstoßen.
»Er mag Euch wirklich.« Ein Schmunzeln lag auf Kahns Lippen. »Kommt, ich zeige Euch das Gemach. Wollt ihr baden?«
Da sie sich nicht daran erinnern konnte, jemals ein echtes Bad genommen zu haben, nickte sie sofort. »Sehr gerne.« Als Straßenmädchen hatte man keine Möglichkeiten, sich ausgiebig zu waschen, außer man ging zum Fluss. Aber das Wasser war kalt.
Der Badezuber war bereits mit dampfendem Wasser gefüllt, als Marika den Raum betrat. Eine Magd erwartete sie und verbeugte sich höflich. »Mylady, Lord Kahn.«
»Amelia, schön Euch zu sehen.« Kahn bedachte die Magd mit einem langen Blick, bevor er sich an Marika wandte. »Amelia wird sich um Euch kümmern. Am besten, Ihr ruht euch tagsüber aus. Alistair wird Euch bei Abenddämmerung erwarten und die Nacht mit Euch verbringen wollen.«
»Ich sagte doch schon, ich bin keine …«
»Nein, so war das nicht gemeint. Er ist ein … Nachtmensch. Wenn Ihr irgendetwas wünscht, stehen Euch Amelia oder ich jederzeit zur Verfügung.« Er ging zu einem dicken Seil, das von der Decke herabhing. »Einfach kräftig daran ziehen.« Dann nickte er der Magd lächelnd zu, bevor er wieder Marika ansah. »Nun wünsche ich Euch ein erholsames Bad. Gehabt Euch wohl.«
Unschlüssig sah sie zu, wie er das Zimmer verließ. Die Magd stand neben dem Badezuber und Marika blickte sich weiter um. Ein großes Bett, ein Schrank und ein Tisch mit einem Spiegel und etlichen Tiegeln davor, machten den Raum zu einer Art Damengemach. Sahen so die Gemächer der adeligen Frauen aus? »Warum ausgerechnet ich?«, fragte Marika sich selbst.
»Er wählt jeden persönlich aus«, sagte Amelia. »Auch ich wurde von ihm erwählt, ihm zu dienen.«
»Wonach entscheidet er sich?« Tausend Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. »Wie findet er uns?« Und warum ausgerechnet sie? Sie verstand es einfach nicht.
»Er fühlt diese Stadt und jeden, der sich hier befindet.«
»Wie meinst du das?«, hakte Marika nach, doch die Magd senkte den Kopf und deutete auf das dampfende Wasser.
»Das Bad wartet, Mylady.«

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